BEDEUTEND; ABER ...Ernst Kreuder: Agimos oder Die Weltgehilfenvon Arno Schmidt Allem voraus: Das Buch ist nicht unbedeutend! Wenn wir nur jedes Jahr eine Ernte von 20 solchen Stücken aufzuweisen hätten; dann könnten wir uns doch mit Grund einbilden, etwas vor der DDR vorauszuhaben – leider haben wir sie nicht. Hingewiesen sei auf die gute Oberflächenbearbeitung. Die Sprache hält grundsätzlich ein Niveau wie etwa Hesses STEPPENWOLF (was allerdings keine überschwängliche Bewunderung ausdrücken soll); liegt also etwa ebensoweit über dem Durchschnitt, wie unter den wahren Spitzenleistungen der Prosagenialität, z.B. dem ODYSSEUS des James Joyce. Kleinsteinfälle sind von einer skurrilen Vollkommenheit, daß man nur schmunzelnd salutieren kann: ich däumele auf gut Glück ins Buch hinein – und finde überall stumm aus Schwimmbecken in die gut beschriebene Luft aufsteigende rote Gummifische; eine Polizeihündin geht mit einem Sträfling durch; Pflanzennamen, so rar, daß man annehmen könnte, die schweigsamen Wesen hätten sie sich selber gegeben; (die besten stammen entweder aus dem Slawischen oder Keltischen; die Herren Germanen hatten selten Zeit und Geduld zu dergleichen, Tiere unter Auerochsengröße interessierten kaum.) Und das handelt sich nicht etwa nur um vereinzelte feine Bemerkungen, rari nantes in gurgite vasto; sondern um eine wirkliche Fülle. (Leider hat der Verfasser manchmal die Schwäche, sich wegen Metafern ersten Ranges noch zu ‹entschuldigen›: ein Olivenbaum tritt auf, »der gebeugten Gestalt eines versteinerten Mannes ähnlich, der das knorrige Geäst, die Büschel glatter Zweige, geduckt auf den Schultern trägt.« Dieses eine »ähnlich« entwertet das schön=reale Bild wieder ein wenig: warum hat er nicht 1 Mann, wie beschrieben, oben am Hang stehen und dem Helden zuschauen lassen? (‹Natürlich war es 1 Olivenbaum›, hätte Jener dann erleichtert feststellen können. Die EDDA sagt nie, daß Pfeile ‹ähnlich Vögeln› vom Bogen abzwitschern, sondern dekretiert kalt und selbstbewußt den Begriff ‹Bogenvögel›. Nie mit ‹Ähnlichkeit› sich entschuldigen, wo man Identität behaupten kann!)). * * * Das Buch ist natürlich nicht ‹einheitlich›; weil kein Buch das Erzeugnis 1 Stunde ist – Lyriker haben’s da freilich leichter (vielleicht zu leicht?); aber hier beginnen nun die ersten Skrupel. Denn es besitzt mit nichten, wie der üblich=übertreibende ‹Waschzettel› sich zu behaupten bemüßigt fühlt, einen »geschlossenen Aufbau« oder eine »folgerichtige Handlung«. Im Gegenteil: das Buch ist hoffnungslos nicht=gebaut; and the bowsprit got mixed with the rudder sometimes! Die einzelnen kleingeschnittenen Geschichten, Episoden, Anekdoten, Selbst=Erinnerungen, könnten durchaus auch in anderer, fast beliebiger, Reihenfolge stehen. (Wenn Kreuder sich doch nur einmal diese unerträglich geschäftige ‹Handlung› abgewöhnen könnte; diese Kurzgeschichten=Betriebsamkeit, die keine ‹Form› ergibt, kein Buch, sondern nur Italienischen Salat.) In seiner jetzigen Gestalt liefert das schmackhafte Buch den Dramatikern und Epikern nur einen hochmütigen Beleg mehr, wie leicht es die Prosaschreiber mit ihrem ‹Schubladenauskehren› letzten Endes eben doch hätten; und daß die Anfertigung eines Romans auf Zusammenkleistern von zufällig Vorhandenem, wenn nicht gar Übriggebliebenem, hinauslaufe. Auf Schritt und Tritt wird peinlich spürbar, daß der Verfasser keinerlei Plan gehabt haben kann (man kommt selbst dann nicht weiter, wenn man die Lektüre unter dem Aspekt der ‹Rahmenerzählung› versucht – was allerdings ja nur ein vornehmerer Ausdruck für Zusammenkleistern ist); sondern einfach an einer Ecke des polygonen Gewebes zu spinnen begann, selbst=neugierig, was nun wohl dabei herauskommen würde. Denn es ist reinliche Willkür, wenn man 1 der Gestalten – und es sind ohnehin nicht die klarsten Köpfe! – zu erzählen anfangen; sie dann nach 2 Seiten durch ebbes Aufgeregtes unterbrechen; und dann einen der Neuankömmlinge seinerseits eine maghrebinische Geschichte anheben läßt. (Gewiß, 1001 Nacht weist die gleiche entzückende Nicht=Technik auf; aber ein Kunstwerk kommt auf die Weise nicht zu Stande.) Sehr nachdenklich, daß der Verfasser über 1 Jahrzehnt an dem Buche arbeiten konnte – freilich immer wieder, wie die Zeittafel der Entstehung seiner Bücher ausweist, derb durch anderes unterbrochen – ohne daß stilistische oder gedankliche Brüche allzu schmerzlich fühlbar würden. Hier ist ihm einmal zugute gekommen, daß alle diese MORGENLANDFAHRER, diese ‹Dichter, die vom Priester herkommen›, keine Entwicklung haben, und auch keiner bedürfen. Je unrealistischer, bodenloser, sie verfahren, desto besser gelingt’s ihnen; am besten solche Stücke, bei denen die Nabelschnur zur Realität gänzlich abgebunden ist: ORPLID / ANGRIA / GONDAL. Und auch Kreuder manipuliert – selbstverständlich nicht ungeschickt; er ist nun einmal ‹erste Garnitur› – mit einer hochbedenklich reduzierten Welt. * * * Womit wir nun bei den Nachtseiten des Buches angelangt wären. Äußerlichstes Merkmal: die Gestalten heißen nicht Max, Karl oder Paul; sondern Hieronymus, Nikodemus, Archibald und Berenice: »Wollen Sie etwas trinken, Paridam?«: »Ich möchte mit Ihnen repetieren, Asbjörn.« – Menschenkinder können ja nichts dafür, wenn verrückte Eltern sie mit einer dergleichen gußeisernen Belastung auf den ohnehin mühsamen Weg ins Leben schicken; aber wenn ein Schriftsteller seine Helden systematisch so tauft, dann steckt eine Weltanschauung dahinter, und zwar eine verdammt dubiose! (Abgesehen von hastigen Geschmacklosigkeiten, wie daß ein Neger »Blackie« heißt; gewiß, es ist in diesem Fall die übliche immer=grinsende stereotype Bilderbogenfigur; aber z.B. einen israelitischen Staatsbürger grundsätzlich ‹Jud!› zu rufen, wäre nicht nur taktlos, sondern auch gefährlich!). Sehr nett die Anekdote der dem Fleischer entschwimmenden Kuh – aber andererseits essen die Helden wiederum découvrierend gern & gut, belegte Brote, Slibowitz und dampfende Braten: »Ich hoffe, daß der Pilaw inzwischen nicht kalt geworden ist?«. Einerseits werden mystisch Fastende verführerisch geschildert – das war bei allen Mystikern schick; sie wären ja sonst auch zu dick geworden – andererseits grenzt es schon an Snobismus, was Kreuders Helden so ‹zu sich nehmen›: Virginia Latakia; Grappa & Halwa; »zuletzt gab es für Jeden noch ein Stück Rachat Lokum«. (‹Racha› = ‹Du Narr?›; ‹Lokkum› = ‹Evangelische Akademie›? – Ich hatte einmal eine Tante Emma, die 3 Tage in Dänemark gewesen war, und seitdem für Marmelade nur noch ‹Skyr› (oder so ähnlich) sagen konnte.) Ich habe darauf geachtet: im ganzen Buch kommt nicht 1 Mal ‹Corned Beef› vor, auf das man als fleißiger Intellektueller ja entscheidend angewiesen ist. Aber lassen wir ‹uralt=göttlich=Ginseng› und all die aparten Fressalien beiseite. Hinzutritt die Maschinerie Ariosts und Tassos: Kostümierte, wenn nicht gar Vermummte; Geheimbündeleien, d.h. der unvermeidliche Kreuderische Verein wird gegründet, wie schon früher in den UNAUFFINDBAREN oder der GESELLSCHAFT. Wildeste Schützen – wozu ich nur anmerken möchte, daß ein anständiger Mensch weder soviel schießt, noch soviel beschossen wird; angeschossen, und wohl auch einmal erschossen, das ja; aber dieses infantile, mit verdächtiger Freudigkeit beschriebene Geknalle, das man kaum Karl May oder Robert Kraft verzeiht? Freilich lassen sich durch solche Balkanmethoden sehr leicht ‹kompositorische Brüche› tarnen: wenn man nicht weiter weiß oder mag, läßt man die Gesellschaft durch ein MG auseinandersprengen; das wußten schon die alten ‹Schlachtenmaler›: wo die Anatomie ausgeht, fängt der Pulverdampf an. Die Helden sind sämtlich Schöngeister, die gegen die Technik deklamieren – und sie dabei leidenschaftlich benützen: jede Seite ist überwimmelt von Autos, Eisenbahnen, Brauereien, Telefonen, Geheimtüren werkeln. Und, typisch für die Herren Einödler: im ganzen 400=Seiten=Buch arbeitet kein Mensch! Nicht »Weltgehilfen« sehen wir, wohl aber Weltschmarotzer. Weltfremdheit nicht im guten Sinne; sondern Vertreter einer ‹feinsinnigen› Künstelei, die sich, apart lächelnd vor Sanduhren setzen, um ‹die Zeit› lautlos verstreichen zu sehen; oder beim »Licht aus alten Schiffslaternen« dösen: man vermag sich mit dem besten Willen keine Gesellschaftsordnung vorzustellen, in der solche Leute nützliche, oder auch nur nicht=störende, Mitglieder sein könnten! Ich habe ein tiefes Mißtrauen gegen die, leider noch häufigen, Menschen, die einen Lichtschalter anknipsen, und dazu begeistert=versonnen ‹Magie!› murmeln; oder nachts an einer erleuchteten Fabrik vorbeifahren, und ‹Also wie ein Feenpalast!› sagen können: bei einer derartig gefühllosen Mißachtung der schwer Arbeitenden, gleichviel ob Arbeiter ob Techniker, spiele ich nicht mit! Auf die betrüblich naheliegende Frage, wie all diese kuriosen ‹Bünde der Einsamen› – eine typisch tüdeske contradictio in adjecto, bei der man unwillkürlich grinsend den Mund zerren muß: schwatzen wollen die Kerls; weiter nichts! – finanziert werden, wird man mit dem verschwommenen Hinweis abgefunden, daß auf dem Grunde eines Sees noch Bleikanister mit Gold & edlen Steinen genug lägen – oh, carry me home to die! Natürlich haben jene »Selbstvertriebenen« insofern Recht, als die Fragen ‹ob mein Nachbarskind im Winter eine warme Hose auf dem Hintern habe?› oder ‹ob 1 Gott sei?› (bzw. irgendwelche mystischen Äquivalente) nicht gleichwichtig sind; aber jene Drückeberger halten Gott für wichtiger: ich die Hose! (Und mag man meinethalben noch so vornehm auf meine derben und anmutlosen Nöte herabsehen: meine ‹Beziehungen zur Religion› haben mir nie schlaflose Nächte bereitet; wohl aber, wenn meine Beziehungen zu meinen Mitmenschen nicht in Ordnung waren!) * * * Oft ist die Gesinnung brav – Kreuder ist schon, er mag wollen oder nicht, ein ‹guter linker Mann›! Sehr schön die ehrliche Entrüstung gegen den Hitlerkrieg; aber der ist überlebt: warum nicht, gleich eifrig, gegen die laufende ‹Wiederaufrüstung›? Sehr nett der snapshot, wie die Lokomotive vorbeifährt an den Wachsbüsten von Stalin=Hitler=Churchill=Roosevelt, (nachher kommen noch Mussolini und Chruschtschow dazu): wo aber bleiben, gleichermaßen mit Namen genannt, Eisenhower, der Papst, de Gaulle, und – in dem betreffenden unscharfen Zusammenhang hätte nicht einmal Mut dazu gehört – Adenauer? Ebenso fehlt das Problem aller Probleme, das jeden Tag dringlichere: die sorgliche Betrachtung (zumindest besorgte Erwähnung!) der Bildung des neuen deutschsprachigen Teilstaates im Osten, gekontert mit den dubiosen Praktiken unserer einheimischen Bundesregierung. Erschütternd unrealistisch auch das Allheilmittel des Verfassers: die Massenherstellung und Verteilung von wacker=tapferen Kleinstdrucksachen! Gewiß, es ist ein in Gebildeten=Kreisen nicht seltenes, und nicht nur ein typisches Kreuder=Verkennen, daß ‹unser Volk› gar nicht von Politikern, Zechenbaronen oder gar Technikern (Kreuders ‹Schwarzer Mann›!) vergewaltigt wird: unser Volk wählt sich bewußt diese Leute! Vor die Alternativen gestellt: ‹Wollt Ihr eine starke Wehrmacht? Wollt Ihr die christlich=abendländisch=verantwortungsbewußte Atommacht?!›; oder aber (und hier wird die Stimme natürlich ironisch und abfällig): ‹Wollt Ihr ein fleißig=unbedeutendes Dasein als Kleinstaat?› – da wählte, auch heute und künftig wieder, das deutsche Volk unweigerlich den Donnerer Thor. Der Verfasser übersieht vollkommen, daß das Volk unsere, der Wenigen, Ansichten nicht nur nicht teilt, sondern sie auch überhaupt nicht hören will: die Deutschen sind, und, nach Germanenart, geschlossen, längst wieder um die gleiche Kurve gegangen wie 1933! Aber im AGIMOS finden sich in dieser Hinsicht mehrere der fatalsten Irrtümer: was soll uns die schablonierte Fabel der ‹drei weisen alten Männer›? Sollen wir wieder einmal mehr dergleichen mystelndes Gemurmel akzeptieren; all diesen Salm von einer ‹Altersweisheit›? (‹Altersfrechheit›, das gibt es sehr wohl!). Kreuder sollte selbst alt genug sein, um schmerzlich gefühlt zu haben, wie Körper= und Geistesmaschinerie ab 40–50 zu versagen beginnen; und wenn er da freimütig empfohlen hätte, daß das Wahlrecht, aktiv wie passiv, ab 50 erlöschen sollte – dafür auf 18 heruntergesetzt werden; denn die eigentlichen, die schwersten Lasten, tragen ja einwandfrei die 20–40=Jährigen! – ja, dann wäre er uns einsichtig und ehrwürdig gewesen. Aber daß er ausgerechnet wieder die nicht nur abgegriffene sondern gefährlichste aller Legenden kolportieren muß, daß man je älter je weiser werde ..... Aber im Grunde sind wir hier wieder auf eine der Begrenzungen des Verfassers geprallt: Kreuder glaubt (eine bei ihm ohnehin unnötig gut entwickelte Fähigkeit) fest daran, daß es etwas wie Weisheit gebe. Natürlich nicht bei den Wissenschaftlern, die – ebenso konsequent wie verbohrt – tief verachtet werden; und auch nicht bei den ‹Magermilchrealisten› (worunter er diejenigen Schriftsteller versteht, die nicht an Visionen leiden); sondern eben bei jenen geheimnisvoll=Anderen – von der ‹Tabula smaragdina› an, über die Kabbala und Paracelsus, bis hinauf zu den schalmeienden Poeten der Jetztzeit. Und also lesen wir auch im AGIMOS wieder von der »ursprünglich sakralen, und das ist auch: poetischen Welt«. Was soll uns, den Tiefst=Betrogenen aller Dinge, dieses verfluchte – übrigens typisch christliche – Wichtignehmen der eigenen Seele, oder gar des ‹Seelenheils›? Was soll das krampfhafte Hantieren mit Tod & Unendlichkeit & Unsterblichkeit und anderen dicken Worten auf ‹Un...›? Man nenne es höflich ‹Jenseitsneugier› – beziehungsweise, derber, ‹Unendlichkeitsfimmel› – aber hätten wir nicht wahrlich Wichtigeres zu tun, als uns an derlei hohlen Nüssen, gefüllt mit Spinneweben, abzuarbeiten? Ich will gar nicht ruchlos sein, und, wider meine bessere Überzeugung, bei der Vorstellung der Erde als Nova, witzeln: daß dann doch wenigstens ‹etwas los› wäre – aber könnten wir nicht wenigstens versuchen, den doch unvermeidlichen Weg mit Anstand zu Ende zu gehen? Schwer zu arbeiten: damit Kinder und Alte sorglos ruhig sitzen können (oder spielen; je nach Belieben; meinetwegen). Und dann mit möglichster Fassung wegzusterben: weiter wissen wir nichts; ja, können nichts wissen; und Die, die behaupten, mehr davon zu wissen, die wissen am allerwenigsten davon! Nur Der lebt richtig, der – wenn auch diese Stunde noch sämtliche Gesetze & Religionen aufgehoben würden – nichts an seiner Lebensweise zu ändern brauchte! Kreuder, im echten Verein mit all seinen dunkelmännischen, gott=vergifteten, Vorgängern scheint Geheimnisse auszusprechen; er scheint Lösungen anzubieten, scheint Handlungsweisen zu empfehlen – in Wahrheit weicht er den Erfordernissen des täglichen Lebens aus. Niemandem, zumal den, aufs achtungswürdigste, Rat suchenden jüngeren Lesern, gibt er 1 Anhalt, 1 Regel, wie man sich als Sohn, Gatte, Vater, Arbeiter, Bürger, also als Mensch, verhalten solle! Von diesem Standpunkt aus betrachtet, ist es unglaublich, wie leer die artigen Anekdötchen sind! * * * Aber ich will nicht eine Intoleranz mit der anderen vergelten. Einigen wir uns dahingehend, Herr Kreuder: Die Welt ist groß genug, daß wir Beide darin Unrecht haben können!
Arno Schmidt, 1959
Quelle: Essays und Aufsätze 1. S. 495. Copyright Arno-Schmidt-Stiftung 1995 |