Flucht durchs ErzählgeflechtErnst Kreuders Roman Die UnauffindbarenNichts ist allein, nichts ist jemals nur für sich. Vorstellungen, das Schauen auf die Welt werden immer begleitet von ihren Gegenteilen, ebenso wie von hinzugefügten Vorstellungen von möglichen Andersartigkeiten. Alternative fügt sich zu Alternative, und so ist es schwer, das als wahr Erschaute zu trennen von dem, was oftmals als noch wahrer dünkt, oder das Unwahre durch das Gute oder zumindest Bessere zu ergänzen oder zu ersetzen. Ernst Kreuders Romane und Erzählungen weisen meist dieses Subversive auf, dieses Aufgebrochensein, das sich kaum direkt an der Welt, vielmehr über den Weg des sich selbst erschaffenden Bewusstseins des Menschen, des Einzelnen, wie eine Entartung, ein aus der Art-des-Seinsollens-entschlagen verhält. Das ist auch das Thema des Romans Die Unauffindbaren, der mit Unterbrechungen zwischen 1938 und 1947 entstand. Im Vordergrund steht die Person des Gilbert Orlins, "Hypotheken, Immobilien, Finanzierungen", wie es knapp heißt, der auf ein mysteriöses Zeichen hin die konstitutionelle Form der Lebensweise (Familie, Beruf) verlässt und in den Bannkreis einer geheimnisvollen Bruderschaft, jener Unauffindbaren gerät. Die Verfolgung durch die Polizei, abgerichtet auf „Übeltäter und Außenseiter“, bietet den vordergründigen kriminologischen Erzählstrang, um den herum sich mannigfaltige Geschichten aus Erlebtem, Erinnertem und Phantastischem nur selten sich einander zuordnend gruppieren, die die wie um ein untergründiges geistiges Zentrum kreisenden Mitglieder der lose miteinander assoziierten Unauffindbaren erzählen. Auch wenn sie von den Ordnungsmächten verfolgt werden, so übt dies keinen paranoiden Einfluss auf die „Anarchisten“ aus. Das Lose der Verbindung, vielmehr aber noch die Stetigkeit der ungezwungenen Wiederbegegnung an Orten, die als sicher gelten, also das Verschwinden und unverhoffte Auftauchen wird von Kreuder anhand einer Struktur entwickelt, die parallel zu den Möglichkeiten des Erinnerns, der Assoziation verläuft. Schnell, beinahe ohne Intention kann das Vergessen unbemerkt eintreten, ja nur dann auffallend, wenn der Rückgriff beabsichtigt wird. Doch selbst dieser ist keineswegs überhaupt die Folge einer klaren, verständigen Entscheidung. Es entspricht einer Lebenserfahrung; denn wie oft wird man überrascht dadurch, Dinge gestaltet zu bemerken, zu denen keine 'bewusste' Beziehung bestand und die sich trotzdem auffällig machen. Ab diesem Punkt kann in der Tat auch von dem Kettenablauf der Erkenntniskonstituierung gesprochen werden, der gewissen philosophischen Richtungen, wie dem Strukturalismus, zum Basismodell wurde. In Kreuders Unauffindbaren erscheint die beste Daseinsmöglichkeit die zu sein, wie ein Güterwagen ungebremst bergab zu rollen, der natürlich nicht dem Schienenbette entgleist. Gilbert Orlins, mit seinen Freunden immer in Bewegung, erfährt dabei immer zugleich die Ruhe, er wird indirekt gezwungen, in Starre zu verfallen, um sich zu erinnern. Erinnerung, die Zusammenreihung von Erlebtem, in der Form gestaltet, sozusagen die Erlebnisse in der Ich-Perspektive einzusichten, wird ursächlich als eine methodische Wiederkindwerdung favorisiert. Hier steht wider Erwarten nicht Rousseaus Naivitätskonstrukt Pate, denn im Akt des Zurückgreifens entgegen des Zeitlaufes kann mit der Unbedarftheit des Kindes aus der Konsequenz des Daseins das Begreifen der persönlichen Mächtigkeit entwickelt werden. Genau diese Erfahrung der ureigenen Machtentfaltung ist einer der wichtigen Bestandteile der Kreuderschen Existenzphilosophie. Im Roman tritt sie an vielen Stellen zutage: Mitglieder der Unauffindbaren erzählen während der Versammlungen von Entführungen, mit Hilfe derer sie ‚vom Weg Abgekommene‘ mit deren Korrektur zum Besseren spiegeln wollen oder an denen auch simpel Strafen vollziehen, wenn es keine Alternative mehr gibt. So balancieren die Unauffindbaren auf dem Scheitel zwischen Freiheit und Autorität. Diese Entscheidungen werden aus der fragilen Selbstwahrnehmung der eigenen Handlungspotenz legitimiert. Sie richten sich eben auch gegen organisierte Machttransformationen, wie sie beispielsweise Staaten repräsentieren, denen sie eine Opposition der selbstorganisierten Verantwortung anbieten. Wahrlich ist es nicht Kreuders Absicht, ein alternatives moralisches System zu erarbeiten und zu offerieren, das alte abzulösen und Diskurs über Diskurs über Legitimität und Begründbarkeit zu führen. In jedem Menschen verbirgt und erweist sich in der Empfindung jeweils offen eine allen gleiche Sicherheit, Kriterien der Beurteilung intuitiv so anzuwenden, dass das Maß an Verstößen so gering und dasjenige an Gerechtigkeit so unbedingt wie möglich ist. Diese Empfindung wieder zu entdecken, gelingt mittels der Rückbesinnung auf das nicht konventionale Verhalten zu den Menschen, wie es als ursprüngliche Erfahrung dem Menschen innewohnt. Durch die gelungene regelhafte Wiederholung der äußeren Form in der inneren, der Verbindung von erzählten Geschichten und erzählter Roman-Geschichte, bildet sich der Eindruck schier undurchdringlicher Vielschichtigkeit. Sie beruht sicher auf sich selbst. So wie jeder aus seinen Stücken zusammengesetzt ist, die nicht einzeln zu benennen sind, weil der Eindruck der Ganzheit eines jeden der erstbestimmende ist, verschmelzen die Ebenen in diesem Roman. Jeder Versuch der Erinnerung ist durch einen Anlass aufgerufen, der sich in jedem Aspekt und Punkt der Erinnerung immer finden lässt. Ebenso wird die Erinnerung an dieses Buch wiederkehren: unerwartet und überraschend. Andreas Jüngling. Quelle: Kritische Ausgabe 2/2003 |